Das Koeniginnenschwert (Teil 1)
Das Königsschwert passte in Minnas Hand, als sei es für sie geschmiedet. Nicht für sie, die Braut des Kronprinz, die zukünftige Königin am Tag vor ihrer Reinheitsprüfung. Nein, für sie, Minna, das Mädchen, das sich nichts davon ausgesucht hatte, das für nichts davon eine wirklich gute Kandidatin war. Natürlich war das Unsinn: das Schwert war älter als die Prüfung selbst und seit Generationen wurde es von einem König zum nächsten weitervererbt und es war nie mehr für dessen Braut als eine Leihgabe. Minna selbst hatte es in jedem ihrer neunzehn Lebensjahre nur einmal flüchtig nutzen dürfen und das selbstverständlich nur zum Zweck des Lernens. Trotzdem hatte es sich immer angefühlt wie ihres. Wenn sie es berührte, hallte etwas in ihr wieder und wenn sie es führte, lag es leicht in ihrer Hand und sie schwang es wie eine Verlängerung ihres Arms. Mit dem Königsschwert fühlte sie sich stark. Unverwundbar. Furchtlos.Ein dumpfer Aufprall ging durch ihre Knochen, als sie Athars Klinge mit ihrer parierte. Ihr Lehrmeister mochte alt sein, aber er hatte in all den Jahren nichts an Kraft eingebüßt. Doch Minna hielt ihm Stand. Und als er zu einem erneuten Hieb ansetzte, machte sie einen kleinen Schritt nach hinten und duckte sich. Sein Schwert raste auf sie zu und ihre Arme schnellten aufwärts. Mit einem lauten, hohen Klirren flog das Schwert aus Athars Hand. Mit Wucht landete es auf dem Steinboden, schreckte eine Schar Krähen auf und schlitterte noch einige Armlängen weiter, ehe es deutlich außer seiner Reichweite liegen blieb. Und damit endete Minnas letzte Lehrstunde.Athar nickte zustimmend. „Das war wie immer hervorragend. Wenn es nur um deine Schwerttechnik ginge, wäre die Prüfung ein Kinderspiel.“Er sagte das mit klarer Anerkennung, aber Minna entging nicht, was ungesagt blieb. „Schade, dass es mein einziges Talent ist“, antwortete sie und strich über die Klinge, ehe sie das Königsschwert in die vergoldete Scheide steckte und es ihrem Lehrmeister zurückreichte.Athar machte ein klickendes Geräusch mit der Zunge, das sie gelernt hatte, als Missfallen zu interpretieren. „Sag so etwas nicht. Ich habe dich nicht fünfzehn Jahre lang umsonst unterrichtet.“Minna lächelte müde. „Das wird sich morgen zeigen, nicht wahr?“„Genau. Wir wissen nicht, wie es ausgehen wird. Es ist zu früh, vom Schlimmsten auszugehen.“Minna antwortete nicht. Sie setzte sich auf eine der Treppenstufen, die rauf zum Palast führten und schlang die Arme um ihre Knie. Sie wusste, dass Athar es gut meinte, dass er ein guter Lehrmeister sein wollte, der seine junge Schülerin unterstützte und bekräftigte. Aber in Wahrheit wussten sie beide, dass es mehr als angemessen war, vom Schlimmsten auszugehen. Andere waren vor ihr gescheitert. Junge Frauen aus den besten Familien, die als tugendhafte Schönheiten galten und als exzellente Schülerinnen. Minna war nichts davon und morgen wartete eine Prüfung auf sie, deren einziger Zweck darin bestand, die unwürdigen auszusortieren. Minna schaute auf zu den Palastmauern, der ihr Blickfeld einnahm wie eine Wand weißen Nichts, mit Türmen, die wie Eiszapfen in den graublauen Himmel ragten. Und sie fragte sich, ob das ihr Grab sein würde.Athar schob ein paar bunte Blätter von den nahen Bäumen beiseite und ließ sich nehmen ihr nieder. Sacht legte er eine Hand auf ihre Schulter. Sie war warm und schwer und trotz allem tröstlich. „Ich weiß, dass du Angst hast. Ich kann es verstehen. Morgen ist ein großer Tag und viel hängt davon ab. Und ich will ehrlich sein, deine Stärke liegt nicht im Meditieren oder darin, Energien zu fokussieren.“ Das Königsschwert ruhte auf seinen Knien und sein Blick ruhte darauf. „Aber wenn du das Schwert hältst… die Art wie du es führst…“ Er schaute sie nun direkt an, seine dunklen Augen nachdenklich und mit einer Spur von Ehrfurcht. „Minna, so etwas habe ich noch nie gesehen. Du bist bei Weitem nicht die erste Prinzessin, die ich unterrichte und jede Einzelne konnte am Ende eine Verbindung zum Königsschwert aufbauen. Aber du bist die Einzige, bei der es sich so anfühlt, als ob das Schwert in deine Hand will. Als würde es dir gehören.“ Er lächelte sie an und wahrscheinlich sollte das nicht nur sie aufmuntern, sondern auch ihn selbst. „Vielleicht ist das deine Stärke.“Es half nicht. Wenn überhaupt schlugen Sorgen und Zweifel ihre Klauen noch tiefer in Minnas Eingeweide. Wenn sie weiter darüber sprechen würden, müsste sie weinen. Also wechselte sie das Thema. „Wie sieht er aus?“Athar schaute sie verständnislos an. „Was?“„Der Dämon.“„Oh. Das meinst du.“ Athar schnitt eine Grimasse. „Nun, das ist schwer zu sagen. Die Bestie hat meistens keine körperliche Form. Und selbst wenn sie sich manifestiert, erscheint sie jedem anders.“Das war keine Antwort, die Minna weiterhalf. Oder beruhigte. „Aber wenn er körperlos ist, kann er sich dann nicht einfach rausschleichen?“ Sie dachte an die vielen Geschichten über Dämonen, die in alten Amuletten oder Ringen saßen. „Oder sich an mir festhalten? In meine Taschen kriechen oder in meinen Schmuck?“Athar schüttelte den Kopf. „Die Bestie braucht einen Körper, um die Kammer zu verlassen. Und den kann sie nur von einem Menschen übernehmen. Selbst Gegenstände kann sie nur als Gefäß nutzen, wenn ein Mensch sie daran bindet.“ Er schaute Minna eindringlich an. „Sie hat nur Macht über uns, wenn wir es ihr erlauben. Sie ist machtlos, bis wir uns dazu entscheiden, ihr einen Teil von uns zu geben. Vergiss das nicht.“Minna nickte. Das war alles nichts Neues. Aber ein Teil von ihr fürchtete immer, dass sie etwas übersehen hatte, dass sie eine wichtige Information vergessen oder nicht erhalten hatte, dass irgendeine Lücke in ihrer Vorbereitung zu ihrem Scheitern führen würde. „Und was wenn ich mich doch auf den Dämon eingelassen habe?“Minna bereute die Frage beinahe. Denn etwas fuhr durch Athar. Es war kein Zusammenzucken, kein Geräusch, keine Geste. Stattdessen war es, als würde eine Welle aus Eis durch seine Adern rauschen und ihn vollkommen einfrieren. Tonlos antwortete er: „Wenn eine Kandidatin besessen ist, wird sie zurück in die Kammer geschickt… und dort gelassen.“ Sein Gesicht wurde grimmiger und Minna entging die kaum unterdrückte Bitternis in seiner Stimme nicht. „Es ist das Einzige, was getan werden kann. Einen Exorzismus würde die Besessene nicht überleben und die Bestie könnte entkommen. Wenn der Wirtskörper in der Kammer ist, wenn die Bestie ihn verlässt, wird sie in der Kammer gefangen bleiben. Deshalb wird die Besessene dort eingesperrt, bis sie…“Minna konnte nur raten, woran Athar dachte. Aber es war nicht schwer, es sich vorzustellen. Er hatte viele Schülerinnen vor ihr gehabt, das sagte er immer. Aber in seiner Lebensspanne konnte sie höchstens die vierte angehende Königin sein.„Versprich mir eines, Minna“, sagte Athar eindringlich und ergriff ihre Hand so fest, dass es fast schmerzte. „Was immer passiert, wie verzweifelt du auch sein magst. Gib der Bestie keine Macht über dich. Es ist es nicht wert.“Minna zog ihre Hand zurück. „Wenn ich das versprechen könnte“, sagte sie mit belegter Stimme, „dann müsste es diese Prüfung nicht geben.“ Vielleicht war es grausam, das auszusprechen. Athar hatte sich immer um sie bemüht, war immer ein guter Lehrer gewesen. Aber es war nicht sein Leben, das auf dem Spiel stand. Und es war nicht sie, die es sich ausgesucht hatte.~~~Nach dem Abendessen lud Leanas Minna zu einem Rundgang durch den Palast ein. Es war überflüssig. Sie kannte den Palast seit ihrer Kindheit und das war nicht der erste überflüssige Rundgang. Sie konnte die monotonen Gänge und Hallen einfach nicht voneinander unterscheiden. Nicht dass das ein Problem gewesen wäre – hinter jeder Ecke stand ein Diener, der mehr als bereit war, seine aktuelle Tätigkeit niederzulegen, um der zukünftigen Königin auszuhelfen. „Jetzt, wo du hier einziehst, solltest du es selber lernen.“ Leanas‘ blaue Augen leuchteten, als er das sagte, und nicht zum ersten Mal fragte Minna sich, ob sie in diese Augen verliebt war. Es wäre angemessen. Leanas war gutaussehend und jung. Er hatte den hohen Wuchs, das goldene Haar und die helle, aber nicht fahle Haut, die das Ideal eines Kronprinzen diktierte. Er war außerdem der Mann, den sie heiraten würde.Doch auch ein erneuter gemeinsamer Spaziergang änderte nichts an ihrem Unwohlsein im Palast. Die Wände waren einfach zu hoch, die Räume zu weit und leer. Alles war so weiß, dass es blendete, so hallend, dass jeder Schritt ein Publikum hatte, und so makellos, dass sie sich fühlte, wie ein kleiner, schmutziger Fleck. Sie konnte nicht abstreiten, dass der Palast eine eindrucksvolle Schönheit besaß, mit klaren, eleganten Formen und ornamenthaften Verzierungen aus Gold. Doch es war eine Schönheit, die dazu geschaffen war, den Betrachter an seinen Platz zu erinnern. Und das war vermutlich näher an Leanas‘ Motivation als ein angenehmer Abend mit seiner Verlobten.Nach einer gefühlt endlosen Wanderung durch Hallen, die einander so sehr ähnelten, dass Minna sich fragte, ob Leanas im Kreis lief, führte er sie nach draußen auf einen Balkon. Die Sonne verschwand zur Hälfte hinter dem Horizont und tauchte alles in dramatisches Rot: Die Palastflügel, die üppigen Gärten zu ihren Füßen, die Berge und Wälder in der Ferne. An einem anderen Tag wäre der Anblick atemberaubend gewesen und hätte zum Träumen eingeladen. Stattdessen fegte eine Welle des Grauens durch Minnas Körper und durch ihren Kopf schoss die Erkenntnis, dass dies womöglich das letzte Mal war, dass sie die Welt da draußen sah. Es war als sähe sie die letzten Körner aus der Sanduhr ihres Lebens laufen und sie wusste nicht, ob eine weitere Drehung ihr gewährt war.„Wunderschön, nicht wahr?“ Leanas lachte leise und legte eine Hand auf ihren Arm. „Ich hoffe, die Aussicht wird dir nicht langweilig, wenn du sie bald jeden Tag siehst.“Minna starrte in die Ferne, ihre Hände an die Balustrade geklammert. Es war so falsch. Wie Leanas sie anlächelte, wie er freundliche Oberflächlichkeit mit ihr austauschte, als stünde sie nicht vor ihrem möglichen Tod. Als wäre er nicht derjenige, der wegschaute, obwohl er ihre Uhr wenden konnte. Die Worte kamen stockend aus ihrer engen, trockenen Kehle. „Falls ich bald jeden Tag sehen kann. Dafür muss ich die Prüfung bestehen.“Sie spürte, wie Leanas‘ Blick sich in ihr Profil bohrte, doch sie hielt die Augen fest auf den Horizont gerichtet. Erst als er ihr Gesicht in seine Hand nahm und mit sanfter Gewalt in seine Richtung drehte, schaute sie ihn an. Er runzelte die Stirn und sein Mund war zu einem schmalen Strich gepresst. „Was meinst du damit?“Etwas an ihm machte ihr Angst. Leanas war kein Krieger, weder breitgebaut, noch besonders muskulös und viel größer als Minna war er auch nicht. Sie hatte nie den Eindruck gehabt, ihm körperlich unterlegen zu sein. Doch etwas an der Art, wie er ihr Gesicht hielt und sie anschaute, ließ ihre Nackenhaare zu Berge stehen. Sie kam sich vor wie ein Reh, das laut auf einen Ast getreten war und nun die Aufmerksamkeit eines Wolfs hatte.Minna Sie war kurz davor, zurückzurudern, als etwas anderes sich in ihr regte: Wut. Wut über die furchtbare Ungerechtigkeit. Wut darüber, dass ihr Charakter auf die Probe gestellt wurde und ein noch so kleiner Fehler sie das Leben und womöglich ihre Seele kosten würde. Wut darüber, dass sie sich erst beweisen musste, während ihr Prinz allein durch das Glück seiner Geburt zum würdigen Herrscher befunden wurde. Wut darüber, dass selbst wenn sie sich rein und makellos erweisen würde, er immer mehr Macht in der Hand halten würde, ihr Leben nie ihr eigenes wäre. Und Wut darüber, dass ihn das alles nicht kümmern musste, weil ihr Scheitern ihre eigene Schuld sein musste und ihr Gelingen ein Beweis dafür, dass alles seine Richtigkeit hatte.„Ich meine damit, dass ich morgen sterben könnte.“Er schaute sie einen Moment lang ungläubig an. „Sterben, du?“ Leanas ließ die Hand sinken. Er lachte und schüttelte den Kopf, als hätte sie ihn mit einem besonders guten Witz auf kaltem Fuß erwischt. „Oh Minna. Wie kommst du darauf?“„Vielleicht, weil ich morgen mit einem Dämon in einen dunklen Keller eingesperrt werde.“„Du weißt, dass dir nichts passieren kann.“ Leanas sprach mit ihr wie mit einem trotzigen Kind. „Nicht, wenn du ein reines Herz hast und den Dämon nicht gewinnen lässt.“„Wenn ein reines Herz ausreicht“, Minna konnte die Wut jetzt nicht mehr aus ihrer Stimme halten, „warum wurde ich dann Jahre lang unterrichtet? Warum wurde ich nicht einfach gleich nach unserer Verlobung eingesperrt und als Leiche rausgezerrt und durch das nächste Mädchen ersetzt?“Leanas hatte offenbar nicht mit solchem Frevel gerechnet. Für einen kurzen Moment verrutschte die Maske aus guter Manier und gut einstudierten Antworten. „Das wäre barbarisch!“, rief er ein bisschen zu laut und hielt inne, als ein paar winzige Leute im Garten zu ihnen aufschauten. Sein Gesicht wurde glatter und seine Stimme kehrte zurück zum Tonfall eines gnädigen Lehrers mit einem besonders begriffsstutzigen Schüler. „Nicht jeder wird mit einem reinen Herzen geboren. Aber mit der richtigen Anleitung und dem Willen dazu kann jeder es lernen.“ Er betrachtete Minna in einer Art mitleidigen Wohlwollens. „Ich weiß, dass du nervös bist, Minna. Aber glaub mir, wenn du alles richtig gemacht hast, hast du nichts zu befürchten.“Er streckte die Hand aus, um ihre Wange zu berühren. Doch sie wich ihm aus und kehrte wortlos zurück nach drinnen. Die Reinheitsprobe würde sie vielleicht überleben. Doch weder der König, noch das Gesetz würden Gnade kennen, würde sie den Kronprinz vom Balkon schubsen.~~~Es war schon dunkel, als Minna in ihrem Gemach ankam. Es war, wie alles in diesen Mauern, zu groß, zu leer, zu perfekt. Jemand hatte in ihrer Abwesenheit bereits ihre Fechtkleidung weggeräumt, ihr Schwert – ihr eigenes, nicht das Königsschwert – auf einen Beistelltisch gelegt und ein frisches Nachthemd säuberlich gefaltet auf ihr Himmelbett gelegt. Es duftete nach frischen Blumen.Minna setzte an, ihr Kleid abzulegen, als ein Räuspern die Stille durchbrach. Sie zuckte zusammen und griff instinktiv nach ihrem Schwert. Doch als sie sah, wer dort am Fenster stand, hielt sie inne. Ihre Schultern blieben angespannt. „Was machst du hier?“Athar hob die Hände in einer Geste des Friedens. „Verzeih die späte Stunde. Es gibt etwas, das ich dir sagen möchte.“Minna verschränkte die Arme. „Es muss sehr wichtig sein. Hast du vergessen, mir etwas Elementares für die Prüfung beizubringen?“Athar schüttete müde den Kopf. „Ich habe dich alles gelehrt, was ich dich lehren konnte.“ Er sah älter aus als sonst. Nicht wie der starke, bestimmte Lehrer, der sie ihr Leben lang begleitet, sondern wie ein alter, hilfloser Mann. „Und es ist nicht genug.“ Er griff in seine Manteltasche und ehe Minna etwas erwidern konnte, hielt er ihr einen kleinen Gegenstand entgegen. „Hier.“Zögerlich öffnete Minna die Handfläche und er legte einen kleinen Schlüssel hinein. „Was soll ich damit?“„Die Wachen werden die Augen heute Nacht besonders weit offen halten. Aber sie können nicht überall sein. Wenn du dich hinter den Ställen an die Palastmauer hältst findest du eine Tür zu einem alten Tunnel. Er endet in der Stadt. Ich kenne einen Wagenfahrer, der dich für ein Goldstück über die Grenze bringen kann-“„Du willst, dass ich davonlaufe?“ Das brachte Minna tatsächlich etwas aus der Fassung. All die Jahre, in denen er ihr Ehre und Anstrengung gepredigt hatte und nun schlug er ihr vor, dass sie alldem den Rücken kehrte.„Ich will, dass du lebst.“ Athars Stimme mit ungewohnter Heftigkeit. „Ich will, dass du eine Zukunft hast.“Minna starrte erst den Schlüssel, dann Athar an. „Du glaubst, dass ich scheitern werde“, sagte sie tonlos. „Du glaubst, dass ich keine würdige Königin bin.“„Ich glaube, dass du es nicht verdienst, dafür zu sterben.“ Da war wieder diese Bitternis. „Ich glaube dass du, egal wie rein und stark und tugendhaft du bist – oder nicht bist – nicht verdienst, was dich da unten erwartet. Ich glaube, dass niemand das verdient.“Es dauerte einen Moment, ehe die Implikation bei Minna durchsickerte. „Du glaubst also nicht, dass die Prüfung gerecht ist. Und möchtest du, dass es lieber ein anderes Mädchen trifft? Eins, das nicht jahrelang auf diese Rolle vorbereitet wurde?“„Was soll ich anderes tun?“ Athar ließ die Schultern sinken und tiefe Trauer lag in seinem Gesicht. „Ich habe keine Macht über diese Dinge. Alles, was ich tun kann, ist die Anwärterin zu unterrichten. Sie vorbereiten, so gut es eben geht. Und ihr einen Fluchtweg zu bieten, wenn ich keine Erfolgschance sehe.“Es war ein Ausweg. Eine Möglichkeit, das alles zu umgehen. Ein neues Leben beginnen, ohne Furcht vor der Zukunft. Jemand anderes würde den Preis zahlen. Minnas Hand schloss sich um den Schlüssel, so fest, dass er sich in ihr Fleisch bohrte. Dann gab sie ihn an Athar zurück. „Ich kann mehr tun.“ Die Wut flammte wieder in ihr auf, aber in diesem Moment war sie nicht hilf- und ziellos. Sie blickte Athar direkt in die Augen. Sie sah Resignation darin, aber auch einen Hauch von Ehrfurcht. „Was immer getan werden muss. Ich schwöre, dass ich die Letzte bin.“ Und einen Augenblick lang glaubte sie sich selbst.~~~Zum Klang dumpfer Trommeln und der hohen Engelsstimmen junger Knaben wurde Minna zum Ort der Prüfung geführt. Minna lief am Kopf der Prozession, geleitet von zwei schweigenden Priestern und gehüllt in ein schneeweißes Kleid das unförmig an ihrem Körper herab auf den Boden hing. In einer Kellerhalle kamen sie zum Stehen. Spitze Bögen liefen vom Boden herab empor und bildeten eine Kuppel an der Decke. Minna stand vor einem Portal aus Stein, das etwa halb so hoch war wie der Raum. Davor stand der König, gekleidet in Weiß und Gold, das Gesicht ernst und unergründlich. In den Händen hielt er das Königsschwert. Neben ihm stand Leanas, sichtlich bemüht, seinen Vater in Haltung und Gebaren zu kopieren. Doch Minna sah ihm seine Nervosität an. Als wäre da irgendetwas, das für ihn unglücklich ausgehen könnte. Eine Verlobte war schnell durch eine neue ersetzt. Ungebeten, aber nicht unwillkommen, kam Minna der Gedanke, dass er es sein sollte. Dass er sich an ihrer Stelle dem Dämon stellen sollte.Minna schritt die flachen Stufen zum König empor und ging vor ihm in die Knie. Die Trommeln und der Gesang verstummten. Sie verharrte einige Sekunden, bis seine Stimme, tief und dröhnend, ihr befahl: „Erhebe dich.“ Sie gehorchte und er fuhr ohne Umschweife fort: „Schwörst du, dass du reinen Herzens bist? Schwörst du, dass du immer gut und tugendhaft warst? Schwörst du, dass du es würdig bist, eine Königin zu sein?“„Ich schwöre es“, sagte Minna, und obwohl sie leise gesprochen hatte, hallte ihre Stimme im ganzen Saal wieder.Der König nickte und reichte ihr das Königsschwert. „Dann nimm diese Klinge und beweise dich, auf das wir die Wahrheit deiner Worte sehen. Drei Tage in der Finsternis, drei Tage um der Bestie zu widerstehen, und wenn du im Licht zurückkehrst, sollst du Königin sein.“Der Schwertgriff fügte sich in ihre Hand wie ein treuer, alter Freund und für einen winzigen Moment vergaß sie ihre Angst. Dann stieß der König das Portal auf und ein schreckliches, mahlendes Geräusch füllte die Halle. Die Torflügel gingen langsam auseinander und dahinter lag nichts als Dunkelheit. Als sie stehen blieben, nahm Minna einen tiefen Atemzug. Dann schritt sie nach vorne und nicht einmal das vertraute Gefühl des Königsschwertes konnte das Zittern in ihren Beinen verhindern. Sie wollte elegant und mit erhobenem Haupt vorwärtsschreiten, doch es fühlte sich an wie ein ungeschicktes Stolpern. Als sie an Leanas vorbeischritt, schenkte er ihr ein warmes Lächeln und in diesem Moment wusste sie, dass sie seine blauen Augen niemals lieben würde.Ein paar Schritte in die Finsternis und das laute Mahlen von Stein auf Stein ertönte erneut. Dann war das Portal hinter ihr geschlossen. Sie war allein in vollkommener Finsternis. Und irgendwo wartete ein Dämon auf sie.
Zitruseis
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